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Am Aschermittwoch fängt alles erst an

    Glauben Katholiken wirklich, dass die Glocken nach Rom fliegen? Warum ist ausgerechnet der Karfreitag für evangelische Kirchenmusiker der wichtigste Feiertag? Und wie kann man mit Musik fasten? Diese Kolumne räumt mit einigen Mythen auf und erklärt die Musik der Passionszeit. Von Timo Benß

    Während bei den Protestanten die Glocken weiter läuten, fliegen sie bei den Katholiken nach Rom. Dieser Mythos ist weit verbreitet. Was viele Protestanten nicht wissen: Katholiken glauben nicht wirklich, dass die Glocken tatsächlich nach Rom fliegen. Sie werden lediglich am Karfreitag stillgelegt, um das Leiden und Sterben Jesu zu symbolisieren, und erst am Ostersonntag wieder geläutet, um die Auferstehung Jesu zu feiern. Man erzählt aber vielerorts den Kindern, dass sie nach Rom flögen, um dort von Papst Franziskus gesegnet zu werden. Auch bei Erwachsenen ist diese Erzählung deshalb noch präsent. Das funktioniert aber nicht in allen katholischen Gemeinden weltweit. In einigen Kirchen werden die Glocken an Karfreitag nicht stillgelegt, sondern nur gedämpft geläutet.

    Den Brauch, die Orgel gedämpft zu spielen gab es früher sowohl bei Katholiken als auch bei Protestanten. Mithilfe eines Schwellkastens wurde die Orgel wortwörtlich zugebaut. Das ist auch bei der Walcker-Orgel in der Bockenheimer Lambertskirche möglich. Hier hat der Schwellkasten Jalousien, die mithilfe eines Schwelltritts auf- und zugeklappt werden können. 

    Doch warum klingt die Orgel dann in der Passionszeit im Bockenheimer Gottesdienst dann nicht anders als im Rest des Kirchenjahres? Ganz einfach: Wenn man die Jalousie am Schwellwerk zuklappen würde, wäre der Ton so leise, dass niemand mehr mitsingen könnte. 

    Der Schwellkasten wird in der Lambertskirche eher konzertant bei Vor- und Nachspielen eingesetzt, um die Orgel leiser und lauter zu machen und somit eine höhere Dynamik zu erzeugen. Das kommt in der Passionszeit auch nicht selten vor, denn die Musik dieser Zeit im Jahr kann es sehr gut vertragen. Passionslieder thematisieren oft Demut, Kummer und Schmerz. Hier ist es besonders wirkungsvoll, den Klang stellenweise lauter und leiser zu gestalten, um Höhen und Tiefen zu symbolisieren.

    Die Klagen werden wohl am deutlichsten im Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85). Den Text hat Paul Gerhard gedichtet. Zehn Strophen Leid und Schmerz kann die Gemeinde dabei besingen. Unser Selbstexperiment hat ergeben, dass man dafür inklusive Orgelvorspiel 11:09 Minuten braucht.

    Auf sogar elf Strophen kommt „Herzliebster Jesu“ (EG 81). Der Text ist von Johann Heermann (1630), die Melodie von Johann Crüger (1640). Da die Strophen etwas kürzer sind als bei „O Haupt voll Blut und Wunden“, kommt man inklusive Vorspiel auf „nur“ 7:12 Minuten. Aber auch das ist viel länger als unsere Ohren heutzutage vertragen können. 

    Früher wurden die Lieder in der Passionszeit oft ohne Orgel begleitet. So konnte man sich an Ostern wieder auf die Orgel freuen. Es war also eine Art musikalisches Fasten. Die Gemeinde kannte die Melodien sowieso, von daher war das kein Problem. Ja, sogar alle elf Strophen waren kein Problem. Da viele Menschen nicht lesen konnten und sich die Gemeinde auch nicht leisten konnte, für jeden ein Gesangbuch drucken zu lassen, war es ohnehin obligatorisch alles auswendig zu können. Heutzutage wäre das keine Option mehr.

    Mit der Musik der Barockzeit hat sich der Brauch, die Orgel in der Fastenzeit stillzulegen, nicht mehr überall gehalten. In einigen katholischen Kirchen wird das noch praktiziert, aber selbst dort ganz selten. Es wäre auch zu schade um die schöne Passionsmusik. Hier können Kirchenmusiker im wahrsten Sinne des Wortes ihre Leidenschaft zum Ausdruck bringen. Viele Harmonien in Moll und verminderte Akkorde, die das Leiden darstellen, kommen hier zum Einsatz. 

    Und gerade am Karfreitag, wo in vielen Kirchen, alles ruhig ist, blüht die evangelische Kirchenmusik erst so richtig auf. In der Reformation hat man viele Bilder und Ornamente aus den Kirchen entfernt, um sie schlichter zu gestalten. Man könnte den Eindruck gewinnen, der ganze optische Glanz sei stattdessen in der Musik gelandet. 

    Aber es geht auch mit weniger Pomp: In „Wir danken dir, Herr Jesu Christ“ (EG 79) wird ein anderes Bild gezeichnet. In reformatorischer Einfachheit wird hier in dem Text aus dem Jahr 1568 die Passion kurz und präzise auf den Punkt gebracht: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ, / dass du für uns gestorben bist / und hast uns durch dein teures Blut / gemacht vor Gott gerecht und gut.“ Die Evangelische Kirche ist eben vielfältig.